Das Schweigen der Hirten

Christel Lender


Im Oktober letzten Jahres forderten etwa 200 Bischöfe auf der europäischen Synode in Rom, die Kirche müsse Europa "ein Mehr an Seele geben", um den "Zerfall des Katholizismus" aufzuhalten. Tags zuvor hatte Papst Johannes Paul II. mit einem riesigen Feuerwerk vor etwa 10 000 Menschen die renovierte Fassade des Petersdoms eingeweiht.

Angesichts der pompösen Massenveranstaltung, die durch die Medien ging, hatte ich plötzlich das kleine, armselige Kind in der Krippe vor Augen. Was meinten die Bischöfe eigentlich mit ihrer Forderung?

Über diese Kirche, die sich da so in Szene setzte, ist viel bekannt geworden, z.B. über ihre Methoden, mit Folter, Waffengewalt und Ausgrenzung Andersdenkende "zu Tode" zu bekehren. Es ist eine Kirche, in der Männer von jeher Macht ausüben, die über Jahrhunderte hinweg den Frauen Verstand und Seele absprach, deren Geistliche zum Teil auch beute nur zähneknirschend dulden, dass Frauen sich nicht länger in die Rubriken Unterwürfigkeit, Gebärmaschine und Hure einordnen lassen wollen, die stur den vermeintlichen Schutzschild des Zölibats hochhält, bewusst in Kauf nehmend, dass sich dahinter unfassbare menschliche Tragödien abspielen. Mit Renovieren und Phrasendreschen lässt sich die bröckelnde Fassade dieser Kirche wohl kaum kitten, und wenn sie noch so sehr gleißt!

Auch in dieser Kirche leben gläubige Menschen jeden Tag ohne viel Aufhebens Barmherzigkeit, Nächstenliebe für den Menschen, "Ebenbild Gottes" mit automatischem Anspruch auf unantastbare Würde, selbst wenn es sich um das schlimmste Monster handelt. Adolf Hitler war ein solches Monster. Es laufen noch genug von seiner Sorte herum. Für das Wohlergehen und die unantastbare Würde der Tiere fühlt sich diese Kirche nicht zuständig!

Was für "ein Mehr an Seele" meint diese Kirche, deren Geistliche machtlüstern mit politischen Parteien und wirtschaftlichen Gruppierungen kungeln, phantastische Auslandsreisen organisieren, sich in den Gourmettempeln vor Ort, und nicht nur da, den Bauch vollschlagen, sich aber hartnäckig der Not der Tiere und ihrer Beschützer verweigern? Die als Hobbyköche in der Kirchenzeitung gefeiert werden, für Wurstwaren werben, Hühnerbatterien halten, Tiere vom Gottesdienst ausschließen, aber Mastställe und Supermärkte einweihen und der Jägerschaft vor ihrem mörderischen Einsatz Gottes Segen spenden? Die selbst bei den grauenhaftesten Tierskandalen unserer Zeit schweigen, die sich angesichts der verzweifelten Hilferufe unserer Mitgeschöpfe aus den Folterlabors, Mastanlagen, Akkordschlachthöllen, Todeskarren und Kriegs- und Katastrophengebieten taubstumm stellen, weil sie sich nicht zuständig fühlen? Die sich stattdessen einer arglosen Christenschar mit milde verklärtem Blick und ausgebreiteten Armen vor ihren "Opferlammaltären" präsentieren, eingehüllt in wallende Gewänder, eingenebelt vom Dunst rasselnder Weihrauchschwenker und wohlig betört vom Brausen mächtiger Orgelpfeifen? Wo steckt in diesem selbstgefälligen Gehabe eigentlich die Seele? Die Kirche verletzt ständig ihre eigenen Gelübde Armut, Keuschheit, Gehorsam - Pater Ralph in "Dornenvögel" ist ein Anfänger dagegen. Sie säuft Wein und predigt Wasser, blendet segnend aus!

Was haben unsere schutzbedürftigen Mitgeschöpfe von einer Kirche zu erwarten, der selbst am Welttierschutztag, dem Gedenktag des heiligen Franziskus, nichts anderes einfällt als einige abgedroschene Stereotypen, sprich Zitate aus dem unseligen Katechismus und der halbherzigen Broschüre "Die Verantwortung des Menschen für das Tier", einer Ansammlung fauler Kompromisse zulasten der Tiere? Jeder weiß heute, dass es das bisschen humanen Tierversuch nicht geben wird, dass ohne Tierfolter in unserer von Technologien und Machbarkeitswahn beherrschten Welt wirtschaftlich gar nichts läuft, dass die Haltung der Kirche zum Tierschutz der willkürlichen, egoistischen Interpretation alle Hintertürchen offen lässt.

Auf dieser Erde wird es niemals friedlicher zugehen, solange die politisch, rechtlich, kirchlich und gesellschaftlich geduldete Tierquälerei zur globalen Verrohung der Menschheit auf verheerende Weise beiträgt.

"Ein Mehr an Seele" sollte diese Kirche erst denn anmahnen, wenn sie sich uneingeschränkt zum Tierschutz bekennt. Das hätte auf politischer und wirtschaftlicher Seite sicherlich viele Kirchenaustritte zur Folge, die nicht im finanziellen Interesse dieser mächtigen Institution liegen. Da riskiert man lieber die paar Austritte von Tierschützern (vgl. Grässer, Brennpunkte, S. 27), die sowieso zu den ungeliebten Querdenkern zählen, und die Kritiker aus den eigenen Reihen werden beruflich auf Eis gelegt. Trotzdem wird man künftig die steigende Zahl der Kirchenaustritte nicht mehr ohne weiteres mit der Ausrede abtun können, es ginge dabei nur um die Einsparung der Kirchensteuer. Zu viele Bürgerinnen und Bürger kehren inzwischen einer Kirche den Rücken, der die Hälfte der Schöpfung wenig bedeutet, außer, man kann sie nach Herzenslust ausbeuten. Man opfert die Tiere heute nicht mehr Gott, sondern dem eigenen Bauch (vgl. Deschner. S. S4). Auch geistliche Konsumenten wissen tief in ihrem Innern, dass der Verzehr von tierischen Körperteilen und wahre Tierliebe einander ausschließen. Aber: Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach!

Da weicht man in der Fastenzeit lieber auf spartanische Nebenschauplätze aus, indem man aufs Fernsehen oder den Alkohol verzichtet. Damit liegen Geistliche voll im Trend: Einfach "cool", diese moderne Version des Fastens!

Eine geradezu pietätlose Umkehr von religiöser Symbolik in banale Konsumiersucht bedeutet es, in der Messe "das Lamm Gottes" um Vergebung unserer Sünden anzuflehen und sich anschließend bei Tisch (an Ostern) über die Lammsteaks herzumachen (vgl. Kirchgessner, S. 18 f). Es genügt nicht, auf Gänsestopfleber und Froschschenkel zu verzichten (vgl. Die Verantwortung des Menschen für das Tier, S. 42), sich dafür aber an anderen tierischen Leichenteilen schadlos zu halten.

Der Papst und seine Hirten hätten es selbst in der Hand, dem Katholizismus "ein Mehr an Seele" zu geben, in Europa ein Meer an Seele zu schaffen, wenn sie die bedingungslose liebende Verantwortung Tieren gegenüber auf sich nehmen und diese nicht länger auf ihre Mitmenschen abwälzen würden, die oft mit verzweifelter Kraft versuchen, das zum Himmel schreiende Tierleid aufzufangen, während Mutter Kirche seelenruhig weghört und wegschaut.

Dabei ist die Frage, ob Tiere eine unsterbliche Seele haben, "absolut ungeeignet für jede Polemik gegen den moralischen Status von Tieren. Dass Tiere eine Seele im psychologischen Sinne haben, wissen wir, und ob sie eine im religiösen Sinne haben, ist - bestenfalls - belanglos" (Vgl. Kaplan, S. 60). Wer sich nun auf die Grausamkeit der Natur beruft, in der Tiere ja auch einander quälen, töten und essen, verkennt, dass der Mensch die Freiheit der Wahl hat und er allein moralisch (gut) oder unmoralisch (böse) handeln kann (ebenda, S. 200). Allzu gern stellt man sich bei jenem populistischen Vergleich wie auch bei der Befürwortung von Tierversuchen wieder mit dem Tier auf eine Stufe.

Die Forderung im Katechismus, man dürfe Tiere gern haben, solle ihnen aber nicht die Liebe zuwenden, die einzig Menschen gebühre (S. 609), erwächst logischerweise aus der menschlichen Schwäche für den Genuss von Tierfleisch und lässt darüber hinaus jegliches Einfühlungsvermögen in die menschliche Seele vermissen. An Gefühle der Zuneigung kann man nicht mit dem Teletact herangehen: Wie will die Kirche dem schüchternen Kind klarmachen, die robusten Kumpels in der Klasse seien liebenswerter als sein Meerschweinchen Rudi, dem kinderlosen Ehepaar, seine zärtliche Liebe zu dem geretteten Hundebaby grenze an Sünde, der einsamen Frau, die gleichgültigen Nachbarn seien mehr wert als ihr einziger Freund Kater Felix? Was für willkürliche Schranken werden hier gegen das (zweitwichtigste) Gebot der Nächstenliebe errichtet, die lediglich seelische Konflikte provozieren und die Seele aushungern?

Woher also "ein Mehr an Seele" nehmen? Ein "Besuch" im Schlachthof oder in einem Tierheim könnte den Bischöfen da weiterhelfen. Vielleicht wissen danach auch unsere Pfarrer wieder, warum sie an Weihnachten Ochs' und Esel neben das Christkind in der Krippe aufstellen.

Macht macht einsam! Eine Kirche, die sich nach Belieben raushält, muss sich nicht wundern, wenn schließlich keiner mehr rein will.


Christel Lender

Schriftstellerin und Mitglied der IGT (Initiative gegen Tierferntransporte und für Tierschutz e.V.)


Quellenhinweise


Löseschnur, Karlheinz: Für einen Bissen Fleisch/Das schwärzeste aller Verbrechen, ASKU-PRESSE

Die Verantwortung des Menschen für das Tier, Arbeitshilfen 113,

Hrg. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, 4 Oktober 1993

Grässer, Erich (Prof.Dr.theol.Dr.h.c., Ordinarius für Neues Testament an der Universität Bonn) Kirche und Tierschutz. In: Brennpunkte, Informationsblatt der Gewerkschaft für Tiere e.V., Heft 15/ März 1999, S. 27 f.

Kaplan, Helmut F.: Leichenschmaus/Ethische Gründe für eine vegetarische Ernährung, Reinbek 1997

Katechismus der Katholischen Kirche, München 1993, S. 609 und S. 618

Kirchgessner, Bernhard: Don Bernardo's Küche, Verlag Josef Duschl, Winzer 1998